„Umet, dieser Vollspast!“, hörte er Zednas Worte. Umet nahm die Kasse aus der Halterung. Nicht dass sein Cousin das jemals zu ihm gesagt hatte, aber Umet konnte sich ausmalen, wie Zedna auch über ihn herzog. „So ein Opfer! Arbeitet an der Kasse und wird immer fetter!“
Umet blickte an seinem weiten Kittel herunter. Sollten sie doch lachen. Was wussten sie schon? Was wusste Zedna? Der wusste sicher nicht einmal, dass Sedna mit S eigentlich ein Mädchenname war. Immerhin hatte ihm seine Eltern ein Z spendiert.
Umet grüßte Barbara, die ihm gegenüber an der Kasse saß und noch bis Ladenschluss durchhalten musste. Eine Woche noch, dachte Umet und steuerte durch die Gänge auf den Pausenraum im hinteren Bereich zu.
Er hatte Zedna bei eins, zwei Jobs geholfen. Böse schauen reichte. Umets Größe und Statur waren einschüchternd genug. Es wusste ja niemand, dass er niemals zuschlagen würde.
„Hey Umet!“ Michelle war vor ihm im Ladengang aufgetaucht. Ausgerechnet Michelle. In ihrem Korb hatte sie Deo, Lidschatten und Vitamintabletten. Umet hatte das schnell entdeckt. „Hast du Feierabend?“, fragte sie.
Umet nickte. „Und du? Gar nicht mit den anderen unterwegs?“
„Doch, gehe gleich zu Ardit.“ Michelle verzog ihr Gesicht. „Komm doch mit!“, sagte sie und lächelte jetzt.
War das ihr Ernst? Umet zögerte. Er zögerte oft, zumeist aus Höflichkeit. Und Höflichkeit war sicher auch Grund, warum sie das gerade gesagt hatte.
„Gebe dir auch einen Drink aus“, fügte Michelle hinzu.
Konnte er nicht einmal Vertrauen haben? „Klingt gut“, sagte er. „Ziehe mich kurz um und mache die Kasse.“
„Alles klar, bis gleich.“ Michelle lächelte und ging zum Bezahlen.
Sie kannten sich aus früherer Schulzeit, ehe sie sich aus den Augen verloren hatten. Michelle war zwei Jahrgänge unter ihm gewesen. Durch Zedna und seine Leute hatte er immerhin sie wieder getroffen. Wenn er nur damals mutiger gewesen wäre. Jetzt war sie mit Zedna zusammen. Oder so etwas in der Art.
Im Pausenraum zählte Umet das Geld in der Kasse. Es war wie immer am Ende eines Tages, an dem man Rechenschaft ablegte und schaute, ob alles aufging. Und so war es auch im Leben, wenn man von Zeit zu Zeit einen Kassensturz machte. Kaufen, geben, nehmen und zusehen, dass etwas übrig blieb. Ob in Zukunft etwas übrig bleiben würde? Er musste es wagen. Es gab nur diese Möglichkeit. Das hatte der Kassensturz seines Lebens ergeben.
Das Geld passte. So sollte es sein, wenn man etwas gut machte, dachte Umet, aber den Beweis würde er antreten müssen. Umet streifte den weißen Kittel ab und zog sein Shirt über.
Ein Unternehmer bringt eines mit, hatte sein Chef gesagt, als Umet gekündigt hatte, er hat ein Ziel, und tut alles dafür, es zu erreichen. Zedna war so. Sein Cousin griff notfalls auch zu unerlaubten Mitteln. Das dickste Auto, die größte Wohnung, die schönste Frau. Hauptsache er bekam es.
Umet eilte nach draußen. Michelle zog vor der Tür an einer Zigarette.
„Danke, dass du auf mich gewartet hast“, brachte er über die Lippen.
„Klar.“ Michelle aschte auf den Boden. Es war das Einzige, was Umet nicht an ihr mochte. Er hatte sie immer attraktiv gefunden, ihr halblanges, blondes Haar, ihre zarte Haut, auch die großen Ohrringe. „Wie war dein Tag?“, fragte sie.
„Nichts Besonderes“ gab Umet zurück.
Sie gingen wortlos nebeneinander her. Konnte er es ihr sagen? Sollte er es ihr sagen? Niemand wusste davon. Nicht einmal seine Mutter war eingeweiht.
Kümmer dich gut um deine Frau, hatte sein Vater immer gesagt. Nur hatte Umet keine. Also kümmerte er sich um seine Mutter. Erst recht seitdem sein Vater weggegangen war. Wichtige Familienangelegenheit, hieß es. Seitdem schickte sein Vater Geld, den Rest zahlte Umet dazu, so dass es für die Miete reichte. Es reichte sogar, um etwas zur Seite zu legen. Die Anfangsinvestition würde er brauchen.
In Ardits Sisha-Bar war nichts los. Der Raum war gedämpft beleuchtet. Ardit hantierte an der Bar mit einigen Gläsern herum.
„Umet!“, rief er erfreut. „Was machst du hier?“
Ardit grüßte Michelle mit Küsschen links und Küsschen rechts und streckte dann Umet die Hand entgegen. Der schlug ein.
„Bruder, du warst lange nicht hier.“ Ardit war immer gut drauf. Wahrscheinlich war es sein Optimismus, der ihn und seine Sisha-Bar über Wasser hielt. „Du bist übernommen worden, habe ich gehört.“
Umet nickte gedankenverloren. Würde er sich mit seiner eigenen Idee auch über Wasser halten können? Die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann war zumindest eine Grundlage.
„Super! Setzt euch. Ich bringe euch Tee. Wollte ihr eine Sisha?“
„Danke“, sagte Michelle und ging hinüber zu einem der Tische. Umet schloss sich ihr an und ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen.
Michelle zog wieder an einer Zigarette. Ihre blonden Strähnen fielen auf ihre Schultern. Einmal vor einiger Zeit hatte Zedna Umet ertappt, wie er Michelle für einen Moment zu lange angeschaut hatte. Zedna hatte nur gegrinst. Für ihn war es offenbar ein Spiel und Zedna war sich sicher, immer zu gewinnen.
Gewann am Ende der Stärkere oder der Schlauere? Oder war der Schlauere der Stärkere? Oder umgekehrt? Jedenfalls hasste Umet die Konfrontation. Das war auch der Grund, warum er lange nicht mehr hier gewesen war.
„Mensch, Umet. Kannst du mal reden mit mir.“ Michelle blies etwas Rauch in den Raum. „Das ist ja unheimlich mit dir.“
Umet konnte den Rauch nicht ab. Er bekam ohnehin wenig Luft. Wenn der Rauch seine Atemwege verstopfte, wurde es mit seiner Konzentration nicht besser. „Wie geht es dir denn?“, fragte er. „Wolltest du nicht eine Ausbildung anfangen?“
Michelle schaute zu Umet, der wendete seinen Blick ab.
„Zedna meinte, das wäre Blödsinn“, begann sie. „Ich mein‘, er sagt das nicht so. Er meint nur, wenn ich jemanden habe. Dann brauche ich kein eigenes Geld.“
„Nimm dir nicht zu Herzen, was er sagt.“ Umet sprach langsam und bedacht. Eine Woche noch. Oder wollte er den Rest seines Lebens an der Kasse sitzen? „Er ist kein gutes Vorbild.“
„Du machst immerhin einen anständigen Job“, meinte Michelle. „Bei Zenda weiß man gar nicht, was der so treibt.“
„Das stimmt.“ Umet wollte sich erheben. Er hatte noch einige Bestellungen zu machen, als er Michelles Hand auf seiner spürte.
„Bleib doch“, sagte sie.. „Es gibt doch noch Tee.“
Wie aufs Stichwort erschien Ardit am Tisch und stellte zwei Gläser ab. Michelle zog ihre Hand zurück.
„Danke“, sagte Umet. Er hatte kaum vom Tee genippt, als von draußen die Tür aufgerissen wurde. Es war Zedna, der in den Raum gestürmt kam und Ardit mit einem einstudierten Ritual abklatschte.
„Was machst du hier?“ Mit diesen Worten wendete sich Zedna an Umet und ließ sich ihm gegenüber in einen Sessel fallen. Michelle ignorierte er. Sie zog an der nächsten Zigarette. „Brauchst du wieder einen Job?“
Umet schüttelte den Kopf.
„Irgendein Wichser hat eine Schramme in mein Auto gemacht! Wenn ich den finde, kann ich deine Hilfe gebrauchen!“
Umet sagte nichts. Es war keine Souveränität, es war die aufsteigende Atemnot, die ihn verharren ließ.
„Ich weiß“, meinte Zedna. „Du bist lieber so ne Kassen-Pussy. Im Drogeriemarkt – wie sich das schon anhört. Drogeriemarkt!“
Umet kontrollierte die Wut, die in ihm hochstieg.
„In der Familie war allen immer klar, dass ich derjenige sein werde, der es zu etwas bringt.“
„Womit denn?“, fragte plötzlich Michelle.
„Wie womit denn? Was willst du überhaupt? Geschäfte natürlich.“
„Was für Geschäfte?“ Michelle blieb hartnäckig.
„Geschäfte halt.“ Zedna wurde lauter. „Kann dir doch egal sein! Guck dir Umet an! Ist das so eine Ausbildung, die du machen willst? An der Kasse sitzen.“
Jetzt erhob sich Umet und baute sich vor Zedna auf.
„Ganz ruhig, Junge“, sagte Zedna mehr belustigt als verägnstigt. „Ganz ruhig.“
„Steh auf!“, presste Umet über die Lippen.
„Warum soll ich aufstehen?“
„Damit wir auf Augenhöhe sind.“
Zedna grinste nur.
„Komm schon!“, rief Umet. „Oder bist du Dreck, nach dem ich mich bücken soll?“
„Was?“ Jetzt sprang Zedna tatsächlich auf.
„Lass gut sein.“ Michelle zog am Shirt von Umet, als Zedna ihm im gleichen Moment einen Stoß versetzte.
Umet taumelte zurück gegen das Sofa, konnte sich aber halten.
„Du warst schon immer zu langsam. In allem!“ Zednas Augen funkelten. „Du wirst noch nach meiner Hilfe kriechen!“
Umet atmete tief. Er durfte den Moment nicht verpassen. „Niemals werde ich mich auf dein dreckiges Niveau begeben!“, rief er. „Auf das von dir und deinen Leuten!“
Zednas rechte Faust raste heran, Umet griff sie mit seiner linken Hand und schubste Zedna in den Sessel.
„Wer ist hier langsam?“ Umet wandte sich zum Gehen.
„Komm zurück!“, rief Zedna. „Wir sind noch nicht fertig!“
„Ich schlage mich nicht mit meiner Familie.“
„Familie? Ich verstoße dich! Hörst du, ich verstoße dich!“
Umet atmete wieder aus und tief ein. Er näherte sich der Tür.
„Haust du ab, du Feigling? Genau wie dein Vater. So richtige Verpisser seid ihr!“
Umet ging nach draußen. Der ganze Hass, das alles musste er aushalten und hinter sich alssen. Er bewegte sich auf etwas zu, das ihm viel mehr Mut abverlangte. Dies war nur der erste Schritt.
Von draußen hörte er noch Zedna brüllen und wie ein geworfenes Möbelstück irgendwo im Raum aufschlug. Michelle kreischte. Umet blieb stehen. Er hörte von drinnen wie Ardit mit Worten beschwichtigte.
Michelle loslassen, dachte er. Irgendwo gab es einen neuen Anfang. Dann würde er ihr von seinem in die Tat umgesetzten Plan erzählen können, ohne den missgünstigen Filter von Zedna. Fialleiter, darauf musste er nicht hinarbeiten. Er konnte es längst sein. Er würde es sein.
Umet hörte, wie die Tür aufschlug und Schritte sich näherten.
„Warte!“ Es war die Stimme von Michelle.
„Wo willst du hin?“, fragte er.
Michelle zuckte mit den Achseln. „Wo willst du denn hin?“
Umet deutete die Straße entlang.
„Gut, ich komme mit.“ Michelle zog die Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche. Sie war leer.
„Ich weiß, wo ein Kiosk ist“, sagte Umet. „Neben dem Gemüseladen, der da nächste Woche aufmacht.“
„Da macht ein Gemüseladen auf?“
„Mit dem besten Wassermelonensalat der Welt!“
Michelle lächelte.
„Ich zeig ihn dir. Aber erstmal gehen wir zum Kiosk.“
„Brauchen wir nicht“, sagte Michelle. „Wollte sowieso aufhören.“
Zusammen gingen sie die Straße entlang. Umet fühlte sich beflügelt, und mit seinem Vorhaben war es genauso wie in der Drogerie. Am Ende musste nur die Kasse stimmen.
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