Nur ihretwegen war Joshua heute zum Unterricht gekommen. Lieber hätte er geschwänzt, aber er hatte Marie hören wollen. Sie beide waren die letzten Verbliebenen, die ihr Talent im Musik-Leistungskurs zur Schau stellen mussten, und es gab kein Entrinnen, wollte Joshua das Abitur im nächsten Jahr schaffen. Ging es nach seinen Eltern war es alles, was er brauchte.
„When you walked through that door“, erklang Maries sanfte Stimme von vorne, und für Joshua reichten sich Vergangenheit und Zukunft die Hände. All der auferlegte Zwang, soviel zu müssen, was er gar nicht wollte. All die Pein, die er erfahren hatte. Alles fand seinen Ursprung, sein Ende in diesem Moment, in dem Marie vor die Klasse getreten war und begonnen hatte, dieses Lied zu singen.
Ihr sonst verlegener, fast schüchterner Blick war verschwunden. Sie hatte ihren Kopf gehoben, als sang sie über ihre Mitschüler hinweg bis an den letzten Platz am Rande, auf dem Joshua saß und lauschte. Er hatte alles vergessen, jedes Pausenklingeln, von denen er das zum Unterricht viel lieber mochte als das zur Pause, da es ihn nicht zwang, sich im freien Raum bewegen zu müssen und mit Freunden, die er nicht hatte, seine Zeit zu verbringen. Die Schulstunden bedeuteten für ihn Sicherheit unter der ordnenden und schützenden Hand seiner Lehrer, auch wenn ihn die meisten links liegen ließen oder insgeheim gar belächelten. Immerhin ließen sie ihn in Ruhe, wenn sie ihn nicht gerade wie Herr Frantzek heute zu der Aufgabe zwangen, vor der Klasse ein Musikstück spielen zu müssen.
Marie strahlte, obwohl ihr frech-ironisches Lächeln gerade nicht ihre Lippen umspielte. Sie strahlte nur mit ihren dunklen Augen, die konzentriert in eine andere Welt blickten, in der sie mit der Magie verbunden war, mit der sie die Klasse gerade verzauberte. Ihre blonden Locken, mit denen sie sonst so oft spielte, hatten sich über ihre Schultern gelegt und wippten mit ihnen im Takt der Musik.
„There you’ll be“, stieg sie auf der Notenleiter empor und ihr schmaler Körper schien sich mit in die Höhe zu recken. Joshua schaute zu ihr hinauf. Er hatte sein Herz immer in beiden Händen getragen, wenn ihm etwas wirklich wichtig war. Nur gab es da sonst nicht viel bis auf das Keyboard, mit dem er sich jeden Tag nach der Schule in sein Zimmer einschloss.
In der Grundschule hatte er den ersten Liebesbrief geschrieben, danach war er zum Gespött der Klasse geworden. Er hatte die Fetzen eingesammelt und war irgendwann wieder mit seinen vollen Händen losmarschiert. Er hatte seine Lieder auf Kassette aufgenommen und an sie geschickt. Ein paar Tage später waren sie retour gekommen. Unbekannt verzogen hatte auf dem Umschlag gestanden, obwohl ihre Adresse in der Klassenliste auch im folgenden Jahr die gleiche geblieben war. Die anderen Namen hatten Joshua nie interessiert, aber vielleicht auch nur deshalb, weil Marie für ihn unerreichbar schien und er so wenigstens einen Grund hatte, unglücklich sein zu dürfen und am Ende nicht noch mit einem der anderen Mädchen weitergehen zu müssen. Vielleicht hatte er einfach nur Angst.
„Joshua…“ Ob sie die Kassette vielleicht doch nie bekommen hatte? Marie saß wieder an ihrem Platz und drehte ihm den Rücken zu. Hatte er gerade geklatscht? Er hatte doch gerade geklatscht. Hatte sie nicht gerade wieder verlegen gelächelt? Sie hatte doch gerade verlegen gelächelt. Und hatte Herr Frantzek tatsächlich gerade seinen Namen aufgerufen?
„Joshua…“ Seine Stimme wurde eindringlicher. „Hast du etwa nichts vorbereitet?“ Vorbereitet hatte Joshua. Sein ganzes Leben hatte er vorbereitet und jetzt musste er nur raus hier, aber er durfte keine sechs bekommen. Dann wäre das Abitur gelaufen und seine Eltern würden ihn sicher nicht mehr unterstützen. Und er brauchte doch Unterstützung – wenigstens von seinen Eltern.
Jetzt erst, wie Joshua in der Realität landete und seinen Körper mühsam von seinem Stuhl hievte, stellte er fest, wie er bereits heftig schwitzte. Es war ein heißer Tag, es war Sommer und es ging auf das Ende des Schuljahres zu. Und Joshua schwitzte schnell, wenn er unter Druck stand, und das stand er dauernd. Es war die größte Peinlichkeit für ihn, sich zu offenbaren. Er spürte die Wärme unter seinen Achseln, eine Perle seinen Rücken hinunterlaufen, als er die ersten unsicheren Schritte Richtung Klavier setzte. Wer hart arbeitet, schwitzt auch, hatte sein Großvater immer gesagt. Es war nur die Späne seiner künstlerischen Aktivität, dachte Joshua in diesem Moment und sie bahnte sich auch auf seiner Stirn ihren Weg. Dazu gab es keine Steigerung. Nur seine Hände blieben überraschenderweise immer trocken.
„Joshua…“, hörte er Herrn Frantzek wieder, als er bereits vorne vor dem Klavier Platz genommen hatte. Wo war noch mal der Anfang? Anfänge ängstigten Joshua, besonders, wenn er nicht wusste, wie es weiterging und wie das mögliche Ende war. Heute hätte er mit Beethoven anfangen können, mit Bach oder Mozart, aber er hatte ein anderes Stück gewählt – sein eigenes. Auf einem Klavier hatte er es noch nie gehört, bemerkte er, als ein Tropfen seines kristallklaren Schweißes von seitlich seiner Augenbraue auf seine Nase stürzte, zur Spitze hinunterlief und von dort auf eine der Klaviertasten fiel.
„Joshua…“, erklang die Stimme ein letztes Mal, als seine langen, schmalen Finger den Anfang fanden und sich den Noten in seinem Kopf anvertrauten. Es war eine Ballerina, die auf Zehenspitzen durch den Raum schwebte, sich drehend mit ihren anmutigen Bewegungen die Leichtigkeit des Lebens beschrieb, die Joshua nicht kannte. Es war der Wind, der ihm um das Gesicht spielte, wenn er mit dem Fahrrad nach Hause fuhr und an sie dachte. Es war ein Schwarm Vögel, der über ihn hinweg flog, es waren seine Hände, die voller Hoffnung und Zuversicht Stücke geschrieben und dahin getragen hatten, wo er sie für gut aufgehoben hielt. Es war ein zurückgeschickter Umschlag, es waren Regentropfen, die endlos auf ihn niederfielen. Es war die Leere, sein verloren gegangenes Herz, die Dürre, die Blässe, sein Körper, seine großen Ohren, die hinter seinen langen dunklen Haaren ihr Rückzugsgebiet gefunden hatten, weil sie den ganzen Lärm nicht mehr ertragen konnten und alles zu viel für ihn geworden war. Es war der Zwang, die Pein, das Ende, der Mut wieder aufzustehen, eine andere Liebe nicht erwidern zu können und die zu dem größten Geschenk zu entdecken, das ihm ein Weihnachtsmann je gemacht hatte, zu einer Zeit, als er noch an etwas geglaubt hatte. Es war der Höhepunkt, die Gewissheit, dass das alles nötig gewesen war, um hierherzukommen, dieses Stück zu schreiben und vor der Klasse zu spielen, denn es war vielmehr, als nur einem Menschen seine Liebe zu geben. Es war sein Kopf, der nach vorne fiel und seine Haare, die sein Gesicht verdeckten, als sich seine Finger auf die letzten Tasten legten. Es waren Joshuas Hände, und nun spielten sie für alle. Es war die Sprachlosigkeit, es war die Stille.
Friedel meint
….sehr schön!
janmikael meint
dankeschön =)