Kann es einen Tag geben, der ein ganzes Leben verändert, eine Begebenheit, die ein ganzes Leben auf links krempelt? Ich glaube nicht daran, denn alles, was mir passiert ist, ist einem Plan gefolgt, einem Weg, den ich gegangen bin und es ist nicht so, dass ich die Betonmauer, die sich vor mir aufgetan hat, nicht vorher hätte sehen oder wenigstens erahnen können. Bis hierher habe ich eine Reihe von Stoppschildern überfahren und jedes „Bitte wenden“ geflissentlich überhört. Über, denke ich, über, ich bin es über – überdrüssig wie überflüssig, wenn ich es übertriebe.
Ich parke den Wagen vor ihrem Haus. Hier weiß ich, was ich bekomme und es nicht viel mehr als eine Flucht vor dem, was mich in meinen eigenen vier Wänden erwarten wird: Eine Leere, die mich alleine zurücklässt. Ich fühle mich schlecht, denn ich zahle für diese Begegnung – nicht nur mit Geld, sondern vor allem mit meinem Gewissen und dem bitteren Gefühl, das mich anschließend heimsuchen wird.
„Schalte doch mal den Kopf aus. Lass dich pflegen“, hat Andreas gesagt und laut gelacht. Ich habe eingestimmt – so wie es üblich ist und er hat ergänzt: „Ist doch auch nichts anderes als eine Massage. Nur mit Happy End.“ Doch das hat es lange nicht mehr gegeben. Sie ist inzwischen vielmehr eine Seelentherapeutin für mich geworden und erst durch sie ist mir bewusst geworden, dass ich geradewegs auf diese Betonmauer zugerast bin.
Mein Magen grummelt. Es braut sich etwas zusammen im Untergestüb, und damit meine ich jetzt keine Erregung sexueller Natur, vielmehr ein Gasgemisch, das nur noch einer Entzündung bedarf. Die Wut, das Blut, die Glut, die Sut, reime ich mehr schlecht als recht. Ich habe doch alles, ein Leben auf der Überholspur. Karriere, Geld, Ansehen, ein Team, das ich nach Belieben herumkommandieren kann. Das ist es aber nicht, murmle ich, das ist es nicht, schreie ich und schlage auf das Lenkrad.
Es ist wie ein Pflaster, das mir jemand abgezogen hat, nicht behutsam, sondern mit einem abrupten Riss. Die Verletzung, die Versetzung, die Hetzung, die Ketzung, ich sollte das Reimen lassen. Ich bin kein Poet, ich bin ein Löwe, ein Löwe, der vorweggeht. Druck, denke ich, Druck ist alles, was ich gelernt habe, was von Generation zu Generation weitergegeben wurde. „Sei hart zu dir und anderen“, hat mein Großvater schon gesagt. „So kommst du schnell an dein Ziel.“
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich einen Mann mit seinem Hund spielen. Er wirft den Stock, der Hund bringt ihn zurück und wirft sich vor seinem Herrchen ins Gras. Der Mann lacht, der Hund wedelt mit seinem Schwanz. In mir gibt es eine leise Stimme, die mir oft gesagt hat, wie es besser geht, doch ich höre nicht auf sie, habe ich nie gemacht. Überall sehe ich nur Erinnerungen an das, was gemacht werden muss, an das, was fehlt und daran, dass ich und die anderen immer weitermüssen.
Jedes Team-Meeting, jeder Empfang, laut sage ich nur das, was gehört werden will, was uns zum Ziel bringt, nicht das, was ich wirklich mitzuteilen habe. Nur sie kennt meine leise Stimme, meine Zweifel, dass ich dem Druck nicht immer gewachsen bin, die Spannung manchmal kaum aushalten, meine Ungeduld kaum ertragen kann und mich und andere zu ständigem Ertrag zwinge. Am Ende ist es jedoch immer nur ein Kampf mit mir selbst und den sollte ich nicht auf die Mitarbeiter ausweiten, vor allem nicht auf jene, die einen guten Job machen und einen besseren Chef verdienen als ich es bin.
Jetzt stehe ich immer noch vor ihrem Haus und will nicht weiter. Endlich ankommen, nur wo? Ich will nicht nach Hause, ich will aber auch nicht rein, ihr hinterher nicht den vereinbarten Betrag auf die Kommode legen müssen. Ich will auf meine leise Stimme hören, ihr Vertrauen schenken, der sein, der ich bin, und da frage ich mich wieder, ob es einen Tag oder eine Begebenheit geben kann, die ein ganzes Leben verändert? Ich glaube nicht daran, denn alles was mir passiert ist, ist einem Plan gefolgt, einem Weg, den ich gegangen bin. Und ab heute nenne ich es nicht mehr arbeiten, ich nenne es die Wege gehen. Ich werde es nicht mehr Leben nennen, sondern die Aussicht genießen.
In Filmen habe ich offene Enden immer gehasst. Denn ein Ende hat mir eine Botschaft vermittelt und mir mitgeteilt, wie es in meinem Leben weitegehen kann. Doch dafür muss ich nun selber sorgen. Heute wird mich die Leere empfangen, ich werde der leisen Stimme lauschen, und sie werde ich dann zum ersten Mal vermissen, denn jetzt drehe ich den Schlüssel im Zündschloss und fahre los.
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